Trampend durch Kanada und die USA - 14. bis 21. Juni 1996

Trampend durch Kanada und die USA - 14. bis 21. Juni 1996 Was ist wichtig im Leben? Als erstes fällt mir das Überleben ein und dazu gehört, daß ich mir das nötige Geld verdiene. Darüber hinaus sind Integrität und das "Verfolgen des (eigenen) Traumes" unübertreffliche Wegweiser. Mir scheint, ich versuche mein Leben mit diesen beiden Wegweisern in Einklang zu bringen; noch habe ich nicht ganz geschafft, durch das Verfolgen des Traumes Geld zu verdienen.

Mitte Juni befinde ich mich in einer wunderbaren Situation, auf die diese Beschreibung. Gerade habe ich den ersten Schritt meiner ersten Lehrerstelle getan. Es geht darum, mit zwei amerikanischen Oberstufenschülerinnen für sechs Monate studierend durch Europa zu reisen. Vier Tage haben wir damit verbracht uns besser kennenzulernen, eine grobe Reiseroute aufzustellen, über die Vorbereitung zu sprechen u. ä.. Reiselehrer ist momentan mein Traumberuf und ich bin dankbar für mein Schicksal. Es macht mir auch nicht viel aus, daß mir kein Gehalt gezahlt wird und ich dafür jobben muß - aller Anfang ist schwer.

Bevor ich dies in Deutschland tun werde, trampe ich noch vom kanadischen Westen an die Ostküste der USA, um dort für zwei Wochen im "Gesundheit Institute" in West Virginia internationale Frei-willigenarbeit zu leisten. Seit 25 Jahren verfolgen Patch Adams und Freude den Traum, ein kostenloses Spaßkrankenhaus zu verwirklichen. Es ist ihnen damit wirklich ernst. In seinem Buch "Gesundheit" schreibt Patch über das Projekt, den Prozeß und Zutaten wie Gemeinschaft, Freundschaft, Liebe und Vertrauen. Es ist das inspirierenste Buch, das ich jemals gelesen habe.

Vor mir liegt eine Reise von ca. 5.550km, für die ich 9 Tage Zeit habe. Bevor ich lostrampe, kaufe ich mir ein Stand-bye Ticket nach Europa. Mein Studium habe ich gerade beendet und mir bleiben noch 25,-CAN$ und 2,-US$. Das Geld sollte bei sparsamen Umgang für die Lebensmittel reichen und mit Schlafsack, Isomatte und Biwaksack bin ich gut ausgerüstet. Trotzdem bin ich froh, von Nelson, British Columbia, noch am ersten Tag die Rocky Mountains hinter mir zu lassen, denn aufgrund des extrem langen Winters sollen sich Schwarzbären in den Täler herumtreiben. Am Anfang der großen Prärie in der Provinz Alberta finde ich einen geschützten Schlafplatz hinter zum Verkauf stehenden Feldmaschinen.

Eine der größten Überraschungen des Tages ist der "Trans Canadian Highway". Ich habe etwas ähnliches wie eine amerikanische Interstate erwartet. Außerhalb einer selten auftauchenden, größeren Stadt ist dieser berühmte Highway aber nur zweispurig und ähnelt einer normalen Bundesstraße. Ähnelt, weil die Größe stimmt, die Qualität aber selten erreicht wird. Dazu passend sind die Kanadier allgemein weitaus entspannter als die Amerikaner. Das zeigt auch an der ruhigen Fahrweise und Sprache. In das kanadische "ey" am Satzende habe ich mich verliebt; wenn es wie ein Gewürz gebraucht wird. Zweimal nehmen mich sogar attraktive Frauen mit einem oder zwei kleinen Kindern mit, was allerdings auch Kanadier außergewöhnlich finden.

Passend zum zweiten Reisetag lädt mich dann jemand ein, im Hause seiner abwesenden Mutter eine Dusche zu nehmen. Für die Handtücher gibt es eine besondere Vorgehensweise: nach dem Benutzen Schränkchentür aufmachen, Handtuch reinschmeißen und es landet über eine kleine Rutsche in der Wäschetonne im Keller. Stunden später stehe ich an einem so ruhigen und schönen Stück in der Provinz Saskatchewan, daß ich es kaum fassen kann. Kilometerweite Sicht und nur ein gelegentliches Auto; die Sturmwarnung eines Autofahrers habe ich darüber glatt vergessen. Wie auch immer, ein reiselustiger "Bäumepflanzer" kann meinem Schild "German Teacher" nicht widerstehen, da er selbst zwei schöne Monate in Deutschland verbracht hat. Auf geht's nach Winnipeg, Manitoba, und die Zeit bis 4.00 Uhr füllen wir leicht mit interessanter Unterhaltung. Nach ausreichendem Schlaf, Dusche, Rasur und Frühstück setzt er mich dann an einer guten Stelle am Stadt-rand ab.

Kaum eine halbe Stunde vergeht und zwei lebenslustige Leute meines Alters finden mein Schild merkwürdig genug, um anzuhalten und mich mitzunehmen. Der eine Schweitzer, der im Sommer in Kanada Häuser repariert und den Winter in Costa Rica verbringt, der andere Augenarzt und Mitglied des Gemeinderates. Die beiden sind auf dem Weg nach Thunder Bay, Ontario, das Dach des Ferienhauses der Eltern des Kanadiers neu zu decken. Meine Anfrage nach Hilfsbedarf wird ebenso positiv aufgenommen wie mein Vorschlag, den Lohn nach getaner Arbeit zu veranschlagen. Damit liegen drei Nächte in einem Bett, zwei Tage mit reichlicher Verpflegung - Aufgabe der Mutter - und harte Arbeit vor mir. Ich arbeite weit härter als gefordert, fühle mich schon am Nachmittag des ersten Tages wie ein alter Mann und kann nachts nicht gut schlafen, weil meine Muskeln schmerzen. Das liegt auch daran, daß ich praktisch durchgehend schwere Arbeit verrichte, während die 2 sich auch mal leichte Sachen "auferlegen". Egal, ich bin froh, trinke so viel Wasser, daß ich selbst nach Feierabend (es wird ganz schön spät dunkel) keinen Durst auf vorhandenes Bier habe und werde schließlich mit Reiseproviant und 100,- CAN$ sowie 80,- US$ ausgerüstet am Stadtrand abgesetzt.

Der zweite Lift dieses sechsten Tages unterwegs wird mir von einem kanadischen Ehepaar holländischer Abstammung beschert. Die beiden sind getrennnt ins Land gekommen (vor 43 bzw. 45 Jahren), haben sich hier kennengelernt und kürzlich ihren 40. Hochzeitstag gefeiert. Ohne viel Aufhebens halten sie, räumen und stopfen, bis Platz für mich geschaffen ist. Warum? Weil sie Deutsche mögen. Eine schöne Fahrt bis Sault Ste. Marie, Ontario, circa 650 km entfernt gelegen. Die Stadt bildet die Grenze zur USA in Michigan - und eine nette Frau spendiert mir eine Busfahrt, da ich nur im Besitz "großer" Scheine bin. Auf der anderen Seite der Brücke, nach nur zehn Fragen der mäßig mißtrauischen, amerikanischen Grenzbeamten, komme ich bei beginnender Dunkelheit einem Fliegenfischer und Rohrverleger meines Alters gerade recht. Nach drei Tagen voller Mühe und Geduld hat er einen großen Fisch gefangen und ist darüber so glücklich, daß er es gleich mit jemandem teilen will und mit "Root Beer" anstößt.

Nach einer wohligen Nacht im Biwaksack geht es morgens zügig weiter. Der zweite Fahrer macht einen Umweg von 40 km, um mich statt 100 volle 250 km transportieren zu können. Ein pensionierter Witwer mit Kindern und Enkelkindern, der mich aber doch etwas verwirrt, als er mir beim abschließenden Mittagessen sagt, er mag meine Augen, weil er in ihnen eine Millionen Dinge sehen kann. Gleich der nächste Fahrer findet meine Reisebeschreibung und die Europastudienreise so interessant, daß er mich nach Hause einlädt, damit ich eine Kleinigkeit essen und seine Familie treffen kann. Eine tolle Familie mit einer Mutter, die ganz begeistert von Waldorfpädagogik ist und von mir Adressen bekommt; einer Tochter in der 9., die in der 11. auch gerne so eine Studienreise machen würde und ein wenig lern-begeisterter Sohn in der 10., der uns zum Kennenlernen begleitet, als der Vater mich aus diesem Grund noch 50 km weiterfährt.

Für die nächsten 300 km zur Durchquerung von Ohio brauche ich volle neun Stunden (bis 1.30 Uhr). Reichlich liebe Menschen, denn ich habe sieben Fahrer und sechs weitere, die nur noch wenige Kilometer vor sich haben oder gleich darauf in eine andere Richtung fahren, wie dieses so schöne Mädel Anfang zwanzig in einem Sportwagen. Es ist schon längst dunkel, gegen 23 Uhr, und nach einem kurzen Gespräch muß ich sie schweren Herzens ziehen lassen. Noch fit probiere ich um 3 Uhr 15 erstmals direkt an der Interstate zu trampen, obwohl es durch große Schilder an fast jeder Auf-fahrt in Ohio und Kentucky verboten ist und besonders die "State Trooper" heiß sind. Glücklicherweise erwischt mich der "Sheriff" drei Minuten vor einem State Trooper, so daß ich nach dem ordnungsgemäßen Abfragen der Daten nicht verhaf-tet, sondern zur nächsten Ausfahrt gebracht werde. Dort gibt es einen großen "Truck Stop" und die Bedienung schenkt mir Gut-scheine für Dusche und Getränke. Aus diesem Grunde kann ich frisch geduscht und rasiert nach einem Sichtschutz - gegen Staatsbeamte und unmoralische Men-schen - neben der Autobahn suchen.

Als mir am nächsten Tag nach ein paar Stunden unterwegs noch fünf Stunden reine Fahrtzeit bevorstehen, werde ich noch einmal heftig überrascht. Meine bisherigen Erfahrungen mit Schwarzen sind, daß sie keinerlei Regung zum Anhalten zeigen und Frauen höchstens ungläubig und gleichzeitig abgeklärt lächelnd den Kopf schütteln. Nun hält aber ein knapp 50-jähriger Schwarzer, Inhaber einer Landschaftsgärtnerei, der mir gleich Chips und ein Getränk anbietet und später, als er müde ist, mein Angebot zu fahren annimmt. An der Tankstelle läßt er mich allein mit im Wagen mit Schlüssel im Zündschloß. Zu meiner Frage über sein Vertrauen sagt er, daß er sich auf seine Menschenkenntnis verläßt und damit gewöhnlich richtig liegt.

Die letzte Stunde Fahrt auf der Landstraße im rauhen West Virginia bringt ein weiteres besonderes Zusammentreffen. Eine 43-jährige "Hauspflegerin" - sie pflegt Menschen in deren Haus -, inzwischen mutig ihrem Herzen folgend, fährt eigentlich in die andere Richtung und hat auch noch nie einen Tramper mitgenommen - schließlich ist sie "eine West Virginian with all her teeth". Aber sie dreht einfach um und ist unglaublich froh und dankbar vom Gesundheit Institute wie auch von mir zu hören. Ich zeige ihr zum Abschluß das Gelände, das ich schon Neujahr besucht habe, und sie wird mich die Tage besuchen und ihren 21-jährigen Sohn, einen echten "Free Spirit" mitbringen.

Nach all diesen Erfahrungen stellt sich für mich die Frage: Was habe ich auf dieser Reise gelernt? Es haben mich zumeist hart arbeitende und moralische Menschen mitgenommen. Sie haben es gerne getan, und ich habe es ihnen erleichtert durch mein ca. 60 x80 cm großes Schild - um die Angst zu nehmen und Interesse zu wecken - sowie mein ordentliches Aussehen und Benehmen - ich bin vor meinem Studium schon viel in den USA rumgetrampt, aber mehr als langhaariger Hippie. Meine beste innere Haltung war, wenn ich nicht verlangt habe mitgenommen zu werden. Mit noch mehr Zeit und einer weniger festgelegten Route hätte ich jede Nacht ein privates Bett gehabt, die Angebote waren da. Jeder, der mich mitnahm, hatte seine eigene, besondere Geschichte und von jedem konnte ich lernen - bzw. hätte ich lernen können.

Trampend zu reisen ist eine gute Lehre, denn vieles ist außerhalb der eigenen Kontrolle und deshalb heißt es "mit dem Unbekannten zu leben". In Nordamerika gehört dazu, in ganz anderem Maße als bei uns, die Natur zu respektieren und manchmal auch zu fürchten. In den Rocky Mountains sind die Bären hungrig - im Yosemite National Park in Kalifornien wird fast täglich ein Auto von einem Grizzly (Braunbär) wie eine Dose aufgemacht - und in Saskatchewan war ich glücklich genug, um einem heftigen Sturm zu entkommen. Weiter östlich in Ontario gab es riesige Waldbrände und fast wäre die Straße gesperrt worden - was hunderte Kilometer Umweg bedeutet hätte. Und bevor ich nach Michigan und Ohio kam, hatte es dort starke Überschwemmungen gegeben. Wurde ich beim Trampen ungeduldig oder ärgerlich, so war es mein Problem und machte mich zudem für Vorbeifahrende weniger attraktiv. Besondere Gastfreundschaft geschah dann, wenn ich sie als Geschenk betrachtete; und nicht beispielsweise als "beste Geschichte" oder "billigste Reiseart". Nicht wenige haben mich mitgenommen, um alte Tramperschulden zu begleichen. Negativ betrachtet heißt das, daß sie aus Pflicht gehandelt haben, positiv, daß sie wissen, daß ihnen mehr gegeben wurde, als sie selbst gegeben haben oder sogar jemals geben werden (können). Es dämmert mir langsam ernsthaft, daß dies bei mir und meinem Leben auch der Fall ist. So hat mir diese Reise - neben all der bescherten Freude - geholfen, wieder etwas hinter die Kulissen meiner Persönlichkeit und des Lebens überhaupt zu schauen. Ich emp-finde Dankbarkeit und Freude.

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